Formel 1: Plötzlich gucken wir wieder begeistert Autorennen | STERN.de

2022-06-18 15:46:23 By : Mr. Barry Tu

Ja, bevor Sie's anmerken: So ganz weg war die Formel 1 natürlich nie. Aber seit Michael Schumacher 2012 die Zündschlüssel endgültig an den Nagel hängte, da ging das Interesse an den schnellen Flitzern nicht nur in Deutschland merklich zurück. Gefühlt mit jedem Jahr mehr. Vermutlich konnte der Sport da gar nicht so viel für, es gab ja immer wieder Mainstream-Trends bei Sportarten.

In den 80ern war das etwa Tennis mit Boris und Steffi, in den frühen 90ern Basketball mit Michael "Air" Jordan, in den späten 90ern dann das skurrile Intermezzo mit dem Skispringen, als plötzlich Martin Schmitt ein Begriff wurde und Pur extra einen Song komponierten. Um die Jahrtausendwende liebten wir dann alle die Formel 1, fieberten bei den Duellen zwischen Schumi und Mika Häkkinen mit. Und dann – dann war da lange nur noch Fußball.

Aber Trends, das weiß man ja bereits aus der Mode und aus der Musik, bewegen sich in Kreisläufen. Die Kids auf den Straßen tragen wieder bauchfrei, Hüfthosen und Baggy-Jeans. Und während das Skispringen noch auf sein großes Comeback wartet, scheint Formel 1 plötzlich wieder in aller Munde zu sein. Sogar ein Schumacher fährt wieder mit – Michaels Sohn Mick, der seit anderthalb Jahren Fahrer im Haas-Rennstall ist.

Man sitzt jetzt wieder sonntags vorm Fernseher und schaut gebannt eine gute Stunde lang 20 Autos beim Im-Kreis-Fahren zu. Untermalt vom meditativen Sausen der Motoren. Brrrrrschümmmm. Brrrrrrrschümmmmm. Dazu Kaffee und Kuchen. Das kann man langweilig finden. Das kann man sogar schlimm finden, wenn da in Zeiten der Klimakrise massig Abgase in die Atmosphäre geblasen werden oder Rennen in Staaten wie Katar, Aserbaidschan oder China stattfinden. Doch daran, dass einen dieses Spektakel – schneller als einem lieb ist – absolut fesseln kann, ändert das leider nichts.

Ich habe keine Ahnung von Autos, ich weiß nicht, wie Motoren funktionieren oder was der Unterschied zwischen Benzin oder Diesel ist. Ich fahre nicht mal selbst Auto. Aber ich muss gestehen, dass ich seit gut zwei Jahren wieder voll dabei bin bei der Formel 1. Nicht wegen der Autos – wegen der Menschen.

Dazu beigetragen hat sicher auch die sehr erfolgreiche Netflix-Dokureihe "Drive To Survive", wegen der viele Zuschauer angefangen haben, die Rennen auch live zu verfolgen – obwohl sie sich vorher null für die Formel 1 interessiert hatten. Sie schauen genau wie ich nicht zu, weil sie technisch interessiert sind oder das Design des neuen Ferraris oder die Eleganz des Mercedes feiern, sondern sie schauen etwa wegen dem charmanten Grinsen von Daniel Ricciardo, der kompromisslosen Zielstrebigkeit von Max Verstappen, dem dramatischen Hin und Her zwischen Pierre Gasly, Alex Albon und schließlich Sergio Perez zu. Eben: wegen der Menschen.

Da hat Netflix dem Sport echt einen großen Gefallen getan. Wenn jetzt ein Red-Bull-Fahrzeug gegen die Bande kracht, weiß man, wie hinter den Kulissen Toto Wolff ein legeres, kleines Grinsen über sein kantiges Gesicht huschen lässt und Christian Horner sich fluchend die Haare rauft. Und wie er danach vielleicht seine Spice-Girl-Ehefrau Geri anruft, die ihn später in fließenden, weißen Gewändern im englischen Landhaus trösten wird. Umgekehrt – wenn es bei Mercedes nicht läuft, stellt man sich vor, wie Wolff beim Frühstück grummelnd nur ein statt zwei Pumpernickel ordert.

Und aktuell freut man sich für den stets stressgebeutelten Teamchef Günther Steiner, der jahrelang fragwürdige Investoren umschmeicheln musste, um seinen dauerklammen Rennstall über Wasser zu halten – weil in dieser Saison Haas-Pilot Kevin Magnussen überaschenderweise zuverlässig Punkte einfährt.

Prinzipiell, das ist richtig, guckt man bei einem Formel-1-Rennen knappe 60 Runden lang einem Haufen verschiedenfarbiger Autos dabei zu, wie sie im Kreis fahren. Für jeden, der sonst nichts über den Sport weiß, muss das tatsächlich seltsam bis sinnlos klingen. Das ist ja noch öder als die 22 Jungs mit dem Ball, was?

Aber wer die Charaktere hinter den Lenkrädern kennt, und die Leute hinter den Kulissen, für den ist jedes Rennen wie eine neue Folge einer gut gemachten Soap, in der nicht mal Dialog vonnöten ist. Wobei die knappen Wortbeiträge, die der geneigte Zuschauer etwa aus dem Funkverkehr zwischen Team und Fahrer zu hören bekommt, durchaus Spaß machen können – never forget Sebastian Vettels frustrierten Ausruf auf Deutsch: "Mein Gott, muss das sein?!"

Und vermutlich hat jeder Fan seinen eigenen Handlungsstrang, dem er fiebrig folgt. In meinem Fall ist das die große Hoffnung, dass Sebastian Vettel endlich nochmal auf dem Tabellenplatz landet, den er schon zu Ferrari-Zeiten verdient gehabt hätte – wäre nicht das Auto seinerzeit so mies und das Team so unkollegial gewesen. Das Problem ist: Sein aktueller Aston Martin ist trotz hoher Erwartungen vor der neuen Saison eher noch mieser. Wird man die Karre noch irgendwie schneller bekommen? Es bleibt spannend.

Spannend ist auch: Welche Fahrer haben in der kommenden Saison Chancen auf einen Platz in einem der besseren Teams? Welche Autos könnten 2023 eine solche Überraschung werden wie in diesem Jahr der Ferrari? Welche Teamkollegen können sich nicht riechen (looking at you, Mercedes und McLaren ...), welche Fahrer spielen mit dem Gedanken, bald in Rente zu gehen?

Dann sind da natürlich die Rennstrategien: Wer wählt weiche Reifen, wer harte? Wer setzt auf ein, zwei oder drei Pitstops? Und wer setzt darauf, seinen Gegner in einem Kamikaze-Wutanfall von der Strecke zu rammen?

Sie können sich natürlich Ihren eigenen Favoriten aussuchen. In dieser Saison sind Max Verstappen und Charles Leclerc die Kandidaten, mit denen man die größten Aussichten auf Erfolg hat. Allerdings ist es etwa so, als wäre man FC-Bayern-Fan, wenn man für einen von ihnen jubelt. Ist doch langweilig.

Wenn Ihnen die Sonntagnachmittage also eh immer schon zu öde waren, gucken Sie doch mal alle Netflix-Staffeln von "Drive To Survive", dann wissen Sie ganz gut über das aktuelle Fahrerfeld Bescheid. Und dann suchen Sie sich Ihren persönlichen Underdog aus – und drücken Sie bis zum Ende der Saison kräftig die Daumen, während Sie kleinen, bunten Autos auf Bildschirmen zugucken. Brrrrrschümmmm.

Netflix-Dokureihe "Drive To Survive": alle Folgen zum Streamen

nächstes Formel 1-Rennen: 8. Mai in Miami, zu sehen u.a. bei RTL, 21.30 Uhr

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